Exzessive Online-Kommunikation
Das Gewahrwerden der Möglichkeit unbeschränkter (Online-)Kommunikation kann für manche Menschen überaus tiefgreifend, erlösend und einschneidend sein. Mitunter werden erstmalig sehr persönliche Dialoge geführt, die unter den Bedingungen der direkten Kommunikation so nicht möglich waren.

Beispielsweise aufgrund ihres Aussehens selbstunsichere Menschen oder jene, die mehrfach negatives Feedback zu ihrem Verhalten oder ihren Äußerungen erhalten haben, können sich viel intensiver auf den Inhalt der Botschaften konzentrieren. Das gesamte Spektrum nonverbaler Signale wird beim Chatten ausgeblendet. Der Austausch scheint massiv entlastet. Videotelefonie lässt zwar einen gewissen Anteil nonverbaler Botschaften zu, der sich jedoch auf die Tonmodulation und Mimik beschränkt. Für längere Kommunikation wird diese Art des Onlinedialogs in überwiegendem Maße nicht gewählt, da sie eine dauerhafte Präsenz vor dem Rechner erfordert.
Innerhalb weniger Tage gelingt es, einen virtuellen Bekanntenkreis aufzubauen, der in Teilen jederzeit erreichbar ist. Im Gegenzug wird eine ausdauernde Onlinepräsenz erwartet. Für Menschen, die sich bis dahin nur selten in einer (selbstgewählten) Gemeinschaft aufgehoben gefühlt haben, ist das ein geringer Preis für den Gewinn, den sie aus dem virtuellen Miteinander ziehen können.
Der Austausch über am Tag Geschehenes, die Belastungen der realen Beziehungen sowie die vielen begleitenden Gedanken und Gefühle kann mühelos mehrere Stunden am Tag füllen. Eine ähnlich intensive Kommunikation mit mehreren Onlinebekanntschaften und die zusätzliche Nutzung gemeinsamer Spiele, die über die Kommunikationsplattformen angeboten werden, potenzieren den Zeitbedarf.
Da diese Aktivitäten gleichermaßen anregend wie entspannend empfunden werden, bilden auch sie einen möglichen Fluchtpunkt nach einem anstrengenden und belastenden Alltag. Die Gewissheit, am Nachmittag und Abend in die virtuelle Gemeinschaft „einzutauchen“, lassen die Anstrengungsbereitschaft für reale Erfordernisse u.U. sinken - Beziehungsarbeit im Familien- und Bekanntenkreis wird vernachlässigt. Die daraus entstehenden zusätzlichen Probleme können den Drang, so oft und so lange wie möglich im Internet zu verweilen, verstärken.
Das familiäre und schulische Umfeld eines exzessiv onlinekommunizierenden Jugendlichen, dessen Freizeitinteressen sich in dieser Tätigkeit erschöpfen, nimmt einen sukzessiven Rückzug aus dem gewohnten Alltag wahr. Familiäre und schulische Belange werden für den Heranwachsenden scheinbar immer unwichtiger. Die Bedeutung der virtuellen Kommunikation nimmt stetig zu.
Um möglichst häufige und lange Onlinesitzungen zu realisieren, äußert der Jugendliche verstärkt Halb- und Unwahrheiten. Das Misstrauen des Umfeldes wächst, was zu einer weiteren Erhöhung des Konfliktpotentials beiträgt. Die Mutter einer 14jährigen berichtete, dass ihre Tochter das Passwort ihres Rechners (welcher in der Wohnung als Server fungierte) entschlüsselte, die Einstellungen für die Internetzeitbeschränkungen aufhob und daraufhin ein neues Passwort festlegte. So konnte die Mutter ihren Computer nur noch im Beisein der Tochter hochfahren. Zur Rede gestellt, begründete die Jugendliche, dass sie nachts ein wichtiges Gespräch habe führen müssen, welches nicht unterbrochen werden durfte. Im Übrigen sei es für die meisten ihrer Freunde unverständlich, sie nach 24 Uhr nicht mehr online zu treffen...